Seit vielen Jahren ist die Sparkasse Minden-Lübbecke in ihrem Geschäftsgebiet einer der größten Förderer in den Bereichen Kunst, Kultur, Sport und Soziales. Ebenfalls seit langem fördert die Stiftung das interaktive Theaterstück der theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück „Mein Körper gehört mir“ an Grundschulen und Schulen mit besonderem Förderbedarf. „Mein Körper gehört mir“ setzt sich thematisch mit sexueller Gewalt an Kindern auseinander und wird kindgerecht in den 3. und 4. Klassen aufgeführt.
Hintergrund des Gastspiels von Walter Sittler in Minden ist die Auszeichnung der Stiftung der Sparkasse Minden-Lübbecke zur Förderung von Kunst und Kultur für ihr langjähriges und nachhaltiges Engagement gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen mit dem Deutschen Kulturförderpreis 2018. Dieser wird jährlich vom Kulturkreis des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie), Handelsblatt und ZDF ausgeschrieben. Walter Sittler war Mitglied der hochkarätigen Jury und hielt am 22.11.2018 bei der feierlichen Preisverleihung in Berlin die Laudatio für die Stiftung.
Beeindruckt vom nachhaltigen und langjährigen Engagement der Stiftung hat er sich spontan für eine Lesung zu Gunsten des Stiftungsprojekts bereit erklärt. Walter Sittler verzichtet an diesem Abend auf seine Gage und stellt diese den Beratungsstellen Wildwasser Minden e. V. und mannigfaltig Minden-Lübbecke für ihre wertvolle Arbeit – auch im Rahmen des Stiftungsprojekts – zur Verfügung.
Sparkassenstiftung
Sparkassenvorstand Volker Böttcher erzählte in seiner Ansprache im ausverkauften Stadttheater, wie es zu diesem besonderen Abend gekommen ist. Im Rahmen der oben erwähnten Preisverleihung, bei der Walter Sittler die Laudatio auf die Sparkassenstiftung hielt, sagte er zu, wenn sie es hinbekommen, dann würde er zugunsten sozialer Projekte seine komplette Gage spenden und mit seinem Programm auftreten. Denn er zeigte sich sehr beeindruckt davon, was man bei Kindern mit Theaterarbeit erreichen kann. Böttcher setzte gemeinsam mit dem Stadttheater Minden die Idee um, und so las und spielte Walter Sittler den unvergessenen Dieter Hildebrandt mit dem „Ich bin immer noch da“ Programm.
„Ich bin immer noch da“ entwickelte sich aus dem von dem Verlag nach dem bereits 2013 verstorbenen Dieter Hildebrandt veröffentlichten Buch „Letzte Zugabe”, in dem die letzten Texte des Kabarettisten zu finden sind. Es war der Wunsch von Dieter Hildebrandt wie der seines Verlages, dass der Schauspieler Walter Sittler daraus neben Auszügen aus „Was aber bleibt” und anderen Hildebrandt-Texten ein eigens zusammengestelltes Bühnenprogramm präsentiert.
„Mein Körper gehört mir“ – Projekt der Sparkassenstiftung mit der Theaterpädagogik Osnabrück
Im Gespräch mit dem Publikum treffen wir dort auf eine Dame, die sich als ehemalige Schulleiterin in Preußisch-Oldendorf herausstellt. Insgesamt 26 Jahre war Heidi Freudenstein dort tätig und unterstützte das Projekt der Sparkassenstiftung. Sie erzählte, dass das Programm vorab bei einem Elternabend den Eltern vorgestellt wird, damit sie wissen, worum es geht. Dann wird den dritten und vierten Klassen das Stück gezeigt, und zwar jeder Klasse für sich. In dem geschützten Rahmen können die Kinder Fragen stellen und in den Stunden danach wird zusätzlich über das Gesehene gesprochen. In dem Zusammenhang fällt die Frage, ob es Kinder gibt, die sich nach dem Theaterstück bei den Lehrern „geoutet“ haben, was Heidi Freudenstein bejaht. Zwar hat sie so einen Fall nicht an ihrer Schule erlebt, aber von anderen Schulen erfahren. Für die Kinder bedeutet das Theaterstück, dass sie sich und ihrem Empfinden mehr vertrauen, es wagen, Dinge anzusprechen, die unangenehm sind oder ihnen seltsam vorkommen.
Wie wichtig so eine Präventionsarbeit ist und dass sexueller Missbrauch an Kindern überall und damit auch hier vor Ort vorkommt, zeigten die vielen Kinderschuhe, die im Vorraum des Stadttheaters standen und darauf aufmerksam machten, dass jedes 5. Mädchen und jeder 9. Junge – auch hier vor Ort! – davon betroffen sind. Und wir sprechen hier von Kindern unter 14 Jahren.
Walter Sittler
Einem großen Publikum bekannt wurde der Deutschamerikaner Sittler durch seine Rollen in den ZDF Serien „Girl Friends“ und „Nicola“, überhaupt besonders durch seine gute Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Marielle Millowitsch. So gern wird er allerdings nicht auf die schon älteren Serien angesprochen, denn er hat seitdem viel mehr geleistet und besonders die Theaterarbeit mit den Lesungen ist etwas, was ihm Spaß macht und wo er sein Augenmerk drauf richtet. Den Bezug zur Bühne hat er nie verloren und das ist ihm anzumerken, sobald er selbige betritt. Dieser Mann hat eine Bühnenpräsenz, die unglaublich ist. Unsicherheiten oder Lampenfieber, vorsichtiges Abtasten des Publikums – keinesfalls. Fast ist es, als habe man einen unterhaltsamen Gast bei sich zu Hause, so sehr fühlt man sich ins Stück einbezogen. Zwischenapplaus und Zustimmung Seitens des Publikums auf die Beiträge sind ein Beispiel dafür, wie gut Sittler es zu verstehen weiß, die Texte zu interpretieren. Auch politisch zeigt Walter Sittler Rückgrat und hat sich zum Beispiel sehr als Kritiker gegen das Projekt „Stuttgart 21“ eingebracht. Damit hat er sich zwar nicht nur positive Stimmen eingefangen, aber einen Großteil der Bevölkerung sensibilisiert für politische (Fehl-)Entscheidungen.
Walter Sittler im Stadttheater Minden
Er beginnt diesen Abend sehr charmant mit einem schwerzhaften Hinweis, dass eigentlich ja Dieter Hildebrandt hier stehen sollte, aber dieser leider verhindert sei…. Und dann liest und erzählt er Geschichten als Hildebrandt über Hildebrandt, nimmt die Politik aufs Korn und spart auch nicht mit Meinungen über den BER oder die AfD. Und man weiß nicht, ist das noch Hildebrandt oder doch schon Sittler?
Später fragen wir danach und er sagt, dass es zu 99 % tatsächlich die Schriften von Hildebrandt seien, allerdings sind diese ihrer Zeit weit voraus, denn selbiger habe ja nicht ahnen können, dass die politischen Figuren heute nahezu identisch sind, mit denen von vor einigen Jahren, oder dass seine Ideen und Denkweisen noch heute aktuell sein würden.
Auch in alten Programmheften von Hildebrandts „Lach- und Schießgesellschaft“, die dieser mit Sammy Drechsel 1956 gründete, habe er Programmtitel gelesen, die aus den 50er Jahren stammen und die man heute eins zu eins übernehmen könnte.
Hildebrandt und Kästner
Mit Hildebrands Verehrung für den großen Erich Kästner beginnt der Abend. Und so erfährt man, dass Kästner die Zeit des Nationalsozialismus zu seiner eigenen Überraschung überlebte, wenngleich zweimal verhaftet, aber stets freigelassen, wohinter man seinen „Schlag bei Frauen“ vermutet, denn Kästner galt als Womenizer. Hildebrandt machte die Bekanntschaft von Kästner, als er noch als Student Platzanweiser im neugegründeten Theater von Trude Kolman „Die kleine Freiheit“ in München, tätig war, wo Kästner das Programm schrieb. Über dieses Kennenlernen handelt eine der Anekdoten, die Sittler so gekonnt liest, dass man die kleinen Eigenarten Hildebrandts, das Stottern und die willkürlichen Pausen, erkennt und auch versteht, warum Renate Küster, die Witwe Hildebrandts, den Vorschlag machte, Walter Sittler solle diese Lesungen halten.
Auch zu Dieter Hildebrandt sei übrigens einmal ein Produzent gekommen, um über ihn ein Special zu drehen. „Na gut, warum nicht“, dachte er, „immerhin werde ich für meine Lebensgeschichte bezahlt, dann kann ich sie auch erzählen.“ Aber so richtig zufrieden war der Produzent nicht und fing deshalb an, die Geschichte zu verändern. Ein anderer Vater, eine andere Mutter, eine aufregendere Kindheit und die Wohnorte wurden auch verlegt, damit der Zuschauer mehr Spannung hat. Bliebe nur die Frage, wer spielt Hildebrandt? Schüchtern wagt dieser den Einwurf, dass er selbst…? „Nein“, winkt der Produzent ab, „zu Ihnen passt die Rolle gar nicht…“.
Aber Hildebrandt hatte durchaus ein bewegtes Leben. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet er ein zweites Mal, eigentlich glücklich, wenn, nun ja, er von einer Tournee nach Hause kommt, dann begrüßen ihn die Hunde sehr begeistert, wedeln mit dem Schwanz und springen an ihm hoch, wohingegen seine Ehefrau es kaum zu bemerken scheint, dass er überhaupt fortgewesen sei. Als er ihr das vorträgt, nickt sie. Nach der Rückkehr seiner nächsten Reise empfängt ihn seine Gattin nunmehr mit Begeisterung, springt an ihm hoch und wedelt mit irgend etwas herum. Nun ist nicht nur Hildebrandt erstaunt, auch die Hunde sitzen ratlos am Boden…. Aber mit der Frau kann man dafür herrlich fernsehen, zum Beispiel Sport. Aber dort sind beide nicht sicher, was es mit den Sportarten auf sich hat. Skispringen, wenn man stundenlang Skifahrer auf dem „Donnerbalken“ sitzen und von dort aus springen sieht. Oder Autorennen – 70 Runden – wer sieht sich das an? Noch besser sei jedoch Skischießen, also Biathlon, da saust stets ein Skischießer durchs Bild. „Warum tragen die eigentlich Nummern“, will die Frau wissen. Was er mit einem „die werden hinterher wieder eingesammelt“ kommentiert.
Doch nicht nur Heiteres von Hildebrandt wird an diesem Abend vorgetragen, denn er war auch für sehr ernste Töne zuständig, so hat er die politische Lage im Auge behalten, genau wie seine Meinung, die er offen kundtat. Von Kohl zum Beispiel, der mit der Strickjacke pfälzische Gemütlichkeit vortäuschte und dabei Augen hatte, die so kalt waren, dass man darin Sekt hätte kühlen können. Und was die Einheit betrifft, so sei er nicht nur der Vater, sondern auch der Sohn und der heilige Geist selbiger gewesen. Trotzdem war Kohl zur Freude der Journalisten jemand, der gern eigene Änderungen an seine vorbereiteten Reden hinzufügte, was einer eher langweiligen Ansprache unfreiwillig zu Lachern verhalf, sicherlich ungewollt, dafür umso treffender. Auch die Industrie war froh, als Kohl den vorherigen Kanzler Schmidt ablöste, hatte dieser doch stets ein strenges Auge auf sie gehabt, wohingegen Kohl selbiges wohlwollend verschloss…
Über die Wahlen machte sich Hildebrandt auch so seine Gedanken. Zum Beispiel, warum in Bayern die CSU stets die meisten Stimmen erlangt hat. Nun, im Wahllokal liegt vor einem der lange Zettel mit den Parteien und da hängt an einer Schnur befestigt auch der Bleistift, zum Ankreuzen. Die CSU steht natürlich ganz oben an erster Stelle… Nur die Schnur am Bleistift, die ist so kurz,…..
Sogar ein Märchen hat Hildebrandt verfasst, über Karl-Theodor zu Guttenberg, der auszog um Karriere zu machen, zum politischen Überflieger avancierte, bis ihn seine Doktorarbeit ausbremste.
Der BER ist ebenfalls ein Thema an diesem Abend. Zur ersten Eröffnung habe die Kanzlerin schon mit der Rede bereit gestanden, bis ein Anruf der Feuerwehr kam, „STOP, es fehlen noch zwei Feuerlöscher in der Halle“. Beim Anbringen hat man dann festgestellt, die Halle ist noch gar nicht da…
Ursula von der Leyen, zur Zeit von Hildebrandt noch „Renten-Uschi“ genannt, hat mit ihren Reden sogar ihr eigenes Kabarett-Programm gehalten. So Perlen wie „alte Leute werden nicht jünger. Und wenn sie jetzt nichts haben, wird das im Alter noch schlimmer“ oder auch „die alten Leute sollten dankbar sein, denn früher waren sie im Vergleich schon viel toter“…. gaben genügend Material für Hildebrandts Bühnenstücke.
Sehr stark ging es auch gegen die heutigen rechtsradikalen Parteien, die vergleichbar sind mit denen aus der Nazizeit, nur hat man heute für den Begriff Juden andere Namen, wie Asylbewerber, Flüchtlinge oder ähnliches. Man nennt auch die mit Gewalt gegen Ausländer vorgehenden Hetzer verniedlichend „Asylkritiker“. Das wäre allerdings so, als würde man die Schlächter aus Saudi-Arabien, die dort Andersdenkenden die Köpfe abschlagen, „Sterbehelfer“ nennen.
Abschließend zitiert Sittler Frau Dr. Merkel, die auf die Frage, ob sie nach ihrer Zeit als Kanzlerin wieder als Physikerin tätig sein wolle, mit einem „wer so lange in der Politik war, der ist zu nichts anderem mehr zu gebrauchen“ sehr richtig antwortete.
Ganz anders als Walter Sittler, der mit seiner gespielten Lesung für so viel Begeisterung im Stadttheater sorgte, dass die Intendantin Andrea Krauledat ihn schon mal vorsorglich für die nächste Spielzeit einplanen möchte.
Sittler gastiert derzeit mit einigen Programmen auf den Bühnen, so hat er neben Hildebrandt auch noch Erich Kästner wie auch Mariele Millowitsch im Repertoire. In der Region ist er beispielsweise am 15. November in Detmold oder am 29. November in Bad Oeynhausen zu Gast. Ein Besuch, der sich lohnt.
Ganz zum Schluss lassen Sie mich noch sagen, dass wir kürzlich eine Umfrage hatten, zum Thema „Unterhaltung vor Ort“. Da sprachen wir auch die Highlights des Stadttheaters an und als das Gespräch auf Walter Sittler kam, sagte man uns, dass er „ganz schön verloren habe, weil er sich politisch so reingehängt habe“. Wir finden, es gehört schon Courage dazu, als selbständiger Schauspieler seine Meinung so offen zu vertreten, denn nicht jedem gefällt so etwas. Aber gerade so jemand wie Walter Sittler schafft es, durch seine Medienpräsenz auf wichtige Dinge aufmerksam zu machen und damit ein viel größeres Publikum zu erreichen. In der derzeitigen politischen Lage brauchen wir Menschen, die den Mund aufmachen. Wie sagten Hildebrandt/Sittler so schön? „Alle regen sich auf, wenn einer mit offener Hose herumläuft. Aber eine offene Klappe ist viel schlimmer.“