Theatertreffen der Jugend 2017 – Blick nach vorn, Theatergruppe Wunderbar, Stadttheater Minden
Barfüßige Jugendliche, ganz in schwarz, die meisten von ihnen Geflüchtete. An der Seite ein Musiker, der mit Instrumenten und Beatbox-Anleihen einen Klang- und Rhythmusteppich auslegt, über dem sich Gruppenchoreografien entfalten. Man steht einander gegenüber,. formiert sich zu wechselnden Gruppen, umarmt sich, stiebt auseinander, sucht seinen Platz. Aus dem Off Kurzvorstellungen: wie man heißt, woher man kommt. Dann ein kollektives Klatschen, eine Staubwolke, die bleibt, wenn die Spieler*innen die Bühne bereits verlassen haben. Würde man eine Mustervorlage für Theaterproduktionen mit Jugendliche im Jahr zwei nach der so genannten „Flüchtlingskrise“ erstellen, so sähe sich aus. Das scheinen auch die zehn meist aus Afghanistan kommenden Spieler*innen gedacht haben. Denn als das Licht wieder angeht, ist alles anders. Rote Clownsnasen tragen sie, weit aufgerissen sind Augen und Münder. Statt biografischen Fluchterlebnistheater mit kräftiger Betroffenheitsdosis, statt Stückentwicklungs-Einmaleins gibt es jetzt ein bisschen Varierté, einen Schuss Schelmenstück, etwas Kindertheater und viel Pantomime.
Dabei bleibt das Biografische Mittelpunkt. Doch interessiert weniger das Woher, die Fluchtgeschichte, das Zurückgelassene als der titelgebende „Blick nach vorn“. Spielerisch und irionisch reflektieren die neun Jungen und eine Mädchen ihre Gegenwart und durchleben sie als Abenteuerreise mit all der Neugier und dem Schuss Naivität, gepaart mit einer enormen Spiellust, die ihrem Alter, ihrem Blick in und auf die Welt entsprechen. So geht es spielerisch uns clownesk durch Personenkontrollen, Abweisungen, den Heimalltag oder das große Missverständnis des ersten Schwimmbadbesuchs. Man singt sich heimwehgeplagt Lieder aus der Heimat vor, wartet in großen Trauben vor der einzigen Toilette oder zaubert ein wenig in kleinen persönlichen Flucht- und Hoffnungsbewegungen. Und nie vergeht dieser neugierige Blick, dieses jugendliche Strahlen, das Erfahren der Welt als grenzenlos, der Zukunft als offen, auch wenn man weiß, dass die Realität eine andere ist.
Der clownesk zirzensische Ton dieses Abends ist voller Zuversicht – und voller Ironie. Der naiv offene Blick weiß um seine Vergeblichkeit, sein Scheitern an der Wirklichkeit – die in Tagen, in denen in Kabul Bomben hochgehen und gleichzeitig Jugendliche aus Klassenzimmern gezerrt werden, um abgeschoben zu werden noch bedrohlicher erscheint. Diese kollektive Reise ist Spiel, Traum, sich schelmenhaft auflehnender Gegenentwurf, eine sacht widerständige Eulenspiegelei, die den Schutzraum Theater, der sie erst ermöglich, nicht aus den Augen lässt. Ein Ausprobieren am einzigen Ort, der dies zulässt, ein Testlauf fürs Leben. Am Ende nehmen die zehn die Nasen wieder ab, sitzen am Bühnenrand und blicken in ihre Zukunft, hoffnungsfroh, herausfordernd, skeptisch. Aus dem Off ertönen Ziele fürs eigene Leben. Mancher sieht die eigene Zukunft in Deutschland, lobt die Freundlichkeit der Menschen, will sich hier ein Leben aufbauen. Andere wollen zurück, in die Heimat, zu Familie, Freunden, in ein Land ohne Krieg. Da sind die kollektiv Träumenden wieder Einzelne, Individuen, Gesichter, Stimmen, Wünsche und Ängste jenseits der Schubladen, diesseits der Zahlen. Clowns sind sanfte Aufrührer, die im Lachen Wahrheit finden, die alternative Blicke eröffnen und dazu herausfordern, die linearen Gedankenwege zu verlassen. So machen sie Alternativen denkbar, die vielleicht Illusion bleiben. Und finden in diesem Vielleicht Leben. Und wer weiß? Womöglich sogar Zukunft.
*Rezension auf Basis einer Videoaufzeichnung stagescreen.wordpress.com/2017/06/05/im-land-der-roten-nasen/