11.09.2017 | Stand 10.09.2017, 16:58 Uhr
Die Handlung ist schnell erzählt. Ein junger Spund eher schlichten Gemüts, Vollwaise, schmiedet sich aus den Fragmenten eines zerbrochenen Schwertes ein brandneues Exemplar und zieht in die Welt, um das Fürchten zu lernen, tötet einen Drachen (Fafner) und eignet sich den Nibelungen-Ring an; dann ersticht er seinen Pflegevater Mime und begegnet einem Wanderer, der in Wirklichkeit Wotan, der Chef der germanischen Götterwelt, ist; er zerhaut dessen Speer und leitet damit den Untergang der Götterwelt ein, was er aber nicht weiß.
Was er auch nicht weiß: Wotan ist sein Großpapa, denn die Zwillinge Siegmund und Sieglinde, die der Oberste der Götter gezeugt hat, sind die Eltern Siegfrieds, ein Inzest par excellence, den der Göttervater selbst eingefädelt hat. Den Ring hat er einst dem Fafner und dessen Bruder vertraglich übereignet, weil diese ihm Walhalla, den Göttersitz, gebaut hatten. Und da auch der Göttliche Verträge nicht brechen darf, hofft er auf den Enkel, der als jenseits aller Gesetze Stehende das vollbringen kann, was dem Großvater verwehrt ist.
Etwas unvermittelt trifft Siegfried auf Brünhilde, die ihr Vater Wotan in langanhaltenden Schlaf versetzt hat, und küsst sie wach, um sogleich angesichts der sich Räkelnden das Fürchten zu lernen. Nach langem Hin und Her sinken sie einander in die Arme. Ende der Vorstellung.
Thomas Mohr ist ein brillanter Siegfried
Trefflich vorstellen könnte man sich diesen Stoff als Operette von, sagen wir, Jacques Offenbach – schmissig, ironisch, geistreich, unterhaltsam. Aber was da über die Bühne ging, war keine Operette, sondern eine stundenlange Oper von Richard Wagner. Also keine schmissige Geschichte, sondern ein leidenschaftlicher, tendenziell selbstquälerischer Versuch, eine umfassende Deutung der Weltläufe zu präsentieren. Darunter tut’s ein Wagner nie.
Es war eine großartige Premiere, mit glanzvollen Protagonisten und einer von Frank Beermann hervorragend eingestellten Nordwestdeutschen Philharmonie. Beermann dirigiert mit radikaler Nüchternheit, wissend, dass die Magie Wagner’sche Klänge nur durch penible Realisierung der Partitur inszenierbar ist. Weil das Orchester im hinteren Bühnenbereich seinen Arbeitsplatz hat, wird das Publikum stets daran erinnert, wer der eigentliche Regisseur der Oper ist: Die Musik mit ihrer oftmals hypnotischen Wirkung, die nicht Handlung illustriert, sondern die inneren Vorgänge von fühlenden Protagonisten aushorcht.
Das ist auch die Devise von Gerd Heinz, der für eine handwerklich ungemein präzise Inszenierung verantwortlich zeichnet. Jedem Klamauk abholt, ohne Ehrgeiz, nach Tabubrüchen zu forschen, die noch nirgends stattgefunden haben, wirkt die in einem abstrakten Raum (Bühne und Kostüme: Frank Philipp Schlößmann) sich ereignende Darstellung wie ein Schalltrichter für Wagners tönende Raffinesse. Videoprojektionen von Matthias Lippert zaubern geheimnisvolle Bilder. Spinnennetze, das Geäder der Netzhaut – Verstrickungen auf allen Ebenen.
Thomas Mohr ist ein brillanter Siegfried. Er verleiht dem Enkel Wotans jenes Ungestüm, das dem, der keine Furcht kennt, eigen ist. Renatus Mészár gestaltet den Wotan als etwas heruntergekommenen Weltenlenker. Ein großer Bass mit konturierender Schärfe, aber auch immer mit ein wenig Samt in der Stimme. Er verkörpert den großen Verlierer des Dramas, dem der Zuhörer empathisches Entgegenkommen kaum verweigern kann. Mime, devot bis zum Fremdschämen und voller Aggression, findet in Dan Karlström seinen Meister. Der vielseitige finnische Tenor interpretiert den fintenreichen Intriganten mit einer großen Palette unterschiedlicher Klangfarben. Der rund-voluminöse dunkle Alt von Janina Baechle lässt Erda, Wotans Gemahlin, ein kurzes „Kassandra-Gastspiel“ geben, des menschlichen und göttlichen Treibens müde. Oliver Zwarg entwirft einen Alberich, der rast- und ruhelos dem Gold hinterherjagt, dem sicheren Burn-out entgegen hechelnd. Superb das Waldvögelchen Julia Bauer, berückende Gestik! Dara Hobbs ergreifender Sopran adelt den dritten Akt und lässt nicht nur Siegfried, den Furchtlosen, erzittern.
Bernard Shaw, der seinerzeit Siegfried als den russischen Anarchisten Bakunin identifiziert hat, vertritt die These, Wagner hätte sein Ringprojekt mit jener Szene abschließen können, als Siegfried Wotans Speer entzweischlug. Da sei doch schon alles entschieden gewesen.
Dennoch hat Wagner die „Götterdämmerung“ komponiert, die 2018 auf dem Spielplan steht. Das Publikum, das den Mindener Siegfried frenetisch feierte, wird sich darauf freuen dürfen.
Die weiteren Aufführungen: 15., 17., 21. und 24. September. Weitere Infos: www.ring-in-minden.de.
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