Das Orchester erzählt hinter Gaze, wofür auf der Bühne kein Platz ist: „Die Götterdämmerung“ in Minden Bild: Friedrich Luchterhandt
Zeitreise durch vier Epochen: Bei der Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ im Mindener Stadttheater macht der Regisseur aus der Not der kleinen Spielfläche eine Tugend.
Kann man Richard Wagners monumentale Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ in einem kleinen Theater spielen, das nur fünfhundertfünfzig Plätze hat, eine spärlich ausgestattete Bühne und einen Graben, in den nicht einmal ein Barockorchester hineinpasst?
Ja, das geht. Welch wunderbares Erlebnis sogar dabei herauskommen kann, mit ganz neuen Einsichten in Wagners geniales Werk, wird derzeit im Stadttheater von Minden mit der zweimaligen Aufführung des gesamten Zyklus bewiesen. Seit 2002 gibt es Wagner in der ostwestfälischen Stadt, 2015 wurde mit dem „Rheingold“ der „Ring“ begonnen und vor einem Jahr mit der „Götterdämmerung“ vollendet.
Die aus der Not geborene Idee, das Orchester auf die Bühne zu verlagern und die Solisten auf der Vorderbühne agieren und singen zu lassen, erbrachte ein erstaunlich tragfähiges dramaturgisches Modell. Der Regisseur Gerd Heinz hat die schwierigen räumlichen Verhältnisse als Chance begriffen, besonders tief in das Innere der einzelnen Werke der Tetralogie vorzudringen. Für die von ihm mit Lust betriebene psychologische Erkundung des „Ring“-Personals bietet die kleine Spielfläche fast ideale Bedingungen. Auf ihr verdichten sich die Auftritte der Sänger zu kammerspielhafter Intensität, die Nähe zum Publikum begünstigt überdies die Textverständlichkeit.
Die Lichtregie lässt die „Götterdämmerung“ strahlen
Gerd Heinz, der seine frühen Theatererfahrungen im Schauspiel erworben hat, lässt durch eine Vielzahl kleiner Gesten und Einfälle – ein markantes Beispiel: der Fußtritt, den Siegfried, verkleidet als Gunther, in der „Götterdämmerung“ seiner geliebten Brünnhilde versetzt – komplexe Handlungszusammenhänge verständlich werden und verklammert einzelne Episoden. Hagen, der Sohn Alberichs und Halbbruder Gunthers, den Heinz als den großen Strippenzieher in Wagners Weltuntergangstheater betrachtet, taucht bereits im „Siegfried“ auf: Als noch unschuldiges Kind begleitet er den als Jäger verkleideten Alberich zur Neidhöhle.
Die vier Abende der Tetralogie werden in Minden zur Zeitreise durch vier Epochen der Menschheitsgeschichte, das „Rheingold“ als Beschwörung einer Urzeit, die „Walküre“ als eine mittelalterliche Welt mit ihren beherrschenden Familien- und Clanstrukturen, der „Siegfried“ als das von der Industrialisierung geprägte neunzehnte Jahrhundert mit einer schon recht fortschrittlich ausgestatteten Schmiede. Die „Götterdämmerung“ erscheint als „kommende Jetztzeit“, in der ein von Menschenhand entfachter Weltenbrand alles zu vernichten droht.
Die Ausstattung (Bühnenbild und Kostüme: Frank Philipp Schlößmann) besteht aus einem alles überspannenden, jeweils in unterschiedlichen Farben erstrahlenden Leucht-Ring am Bühnenportal, einer ausgefeilten Lichtregie (Michael Kohlhagen) und sparsam eingesetzten Requisiten. Im „Rheingold“ genügen Gesichtsbemalungen wie bei Urvölkern, um die archaische Göttergesellschaft zu charakterisieren.
Fricka trägt eine Pelzstola über der Schulter, die ihre Herkunft aus einer vorzivilisatorischen Welt wie ihre Zugehörigkeit zur Hautevolée andeutet. In der dialogreichen „Walküre“ gelingen Szenen von bezwingender psychologischer Stringenz à la Strindberg und Ibsen, etwa wenn Fricka ihren Gatten Wotan mit eiskaltem Kalkül buchstäblich zerlegt. „Siegfried“ bezieht seine Spannung aus dem Gegensatz zwischen der technisierten Mime-Welt und der (noch) weitgehend unversehrten Natursphäre des Waldvogels, der endlich einmal leibhaftig auftreten darf, statt aus dem Off zu singen.
Das Orchester als allwissender Erzähler
Bei den Vor- und Zwischenspielen oder in hochemotionalen Momenten tauchen Videoeinspielungen auf, die das Geschehen symbolisch überhöhen, mit Feuer, Wasser, Blut oder geheimen Chiffren, die Spinnen im Netz umherlaufen, Pferde und Vögel schemenhaft vorüberhuschen lassen. Die Nordwestdeutsche Philharmonie verwandelt sich hinter dem Gazevorhang, der als Projektionsfläche dient, unter dem wagnererprobten Dirigenten Frank Beermann in ein wunderbares Wagnerorchester, gerade weil es kein Opernorchester ist. Seit dem „Holländer“ hat es sich Wagner buchstäblich Takt für Takt erarbeiten müssen.
Beermann lässt die Geigen leuchten, das Blech strahlen und bringt düstere, schwer lastende Akkorde regelrecht zum Glühen. Das ist durch den Gazeschleier schemenhaft zu beobachten, das Orchester ist allwissender Erzähler und Kommentator wie Energiequelle des Geschehens. Die Solisten sind über die Jahre zu einem eingeschworenen Sängerteam zusammengewachsen. Spielfreudig sind sie alle, die meisten haben mehrere Rollen übernommen, allen voran Thomas Mohr, der vor Kraft strotzende, baritonal eingefärbte Tenor, gestaltet mit seiner metallisch schmetternden Stimme mühelos die beiden Siegfried-Partien, gibt auch noch den Siegmund und den Loge.
Der Mindener „Ring“ wäre ohne den Einsatz Jutta Hering-Wincklers, Vorsitzende des örtlichen Richard-Wagner-Verbandes, die hartnäckig ihr Ziel verfolgte und mit großem Geschick die Finanzierung fast ausschließlich durch privates Sponsoring sicherte, nicht möglich gewesen. Sie erhielt am Ende der „Götterdämmerung“ einen Sonderapplaus.